MFO: Sonderfall oder typisch für die Schweizer Maschinenindustrie?

Adrian Knoepfli

Ist ein Unternehmen ein Sonderfall, oder entsprach es dem «Courant normal»: Diese Frage stellt sich immer, wenn man die Entwicklung einzelner Firmen nicht isoliert, sondern fundiert beurteilen will. Die Tagung des Ortsgeschichtlichen Vereins Oerlikon (OVO) be-fasste sich mit verschiedenen Aspekten der Entwicklung der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) im 20. Jahrhundert.

Vier Referate lieferten an der Tagung eine Fülle von Informationen zur Geschichte der Maschinenfabrik Oerlikon: Kilian Elsasser beleuchtete den Aufstieg der MFO mit ihren Erfolgen bei der Bahnelektrifizierung 1890-1924, Rudolf Jaun erläuterte die Entwicklung vom Fabrikherrenregime zum modernen Management (1919-1955), Matthias Wiesmann befasste sich mit dem als «Versager» abgestempelten Hans Schindler (CEO 1935–1955) und Peter Ritschard schilderte den «Abstieg» des Unternehmens bis zur Übernahme durch die Konkurrentin BBC (heute ABB).

Aufstieg und erste Krise

Pioniere gibt es in der Industriegeschichte viele, wobei Pionier ja kein besonders präziser Begriff ist. Die MFO, die in ihren ersten Anfängen Werkzeuge und Maschinen produzierte, gehörte in der zweiten industriellen Revolution eindeutig zu den Pionieren der Elektrifizierung. Andere Firmen wie zum Beispiel Sulzer in Winterthur oder Georg Fischer (GF) in Schaffhausen waren da skeptischer, zurückhaltender. Eine klare Konkurrentin der MFO war hingegen die BBC, die 1891 von den beiden abgesprungenen MFO-Ingenieuren Brown und Boveri gegründet wurde. Glichen viele Firmen im 19. Jahrhundert noch einem Gemischtwarenladen, der (fast) alles produzierte, setzte um 1900 innerhalb der Maschinen- und Metallindustrie eine Spezialisierung ein. So übernahm die MFO die Elektroabteilung von Rieter (Winterthur), sie verzichtete zugunsten von GF auf die Herstellung von Stahlguss, und 1906 wurde die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon aus dem Unternehmen herausgelöst. An dieser waren zunächst verschiedene Firmen beteiligt. Erst ab 1923 hatte dort Bührle, der als Abgesandter der Magdeburger Werkzeug-Maschinenfabrik in die Schweiz kam, das Sagen. Trotz dieser Bereinigungen blieb die Produktepalette der MFO aber breit.

In der Krise von 1901/1902 musste die MFO saniert werden. Dabei schied der Gross-aktionär und langjährige Miteigentümer Friedrich Wegmann-Schoch, Erfinder der Porzellanwalzenstühle, aus dem Verwaltungsrat, sein Sohn Fritz Wegmann aus Ver-waltungsrat und Direktion aus. Diese Ausbootung war kein Sonderfall. Vielmehr legten die Banken allgemein eine veränderte Reaktion an den Tag: Hatten sie sich bisher in Krisen aus den Firmen zurückgezogen, so verstärkten sie nun ihr finanzielles Engagement, nahmen im Verwaltungsrat Einsitz und griffen auch ins operative Geschäft ein. Familienmitglieder wurden durch angestellte Manager ersetzt. In der Folge hielt sich die Präsenz der Banken in den Verwaltungsräten der Industrie bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein und bildete einen Bestandteil des berühmten ‘Old-Boys-Network’.

Im Unterschied zu den Wegmanns konnte sich bei der MFO, wo die Banken 1899 eingestiegen waren, die Familie Huber halten: Auf Wegmann jun. folgte in der Direktion Dietrich Schindler-Huber, der Schwiegersohn von MFO-Gründer und -VR-Präsident Peter Emil Huber-Werdmüller. Huber-Werdmüller, dessen erste Gründung in Oerlikon (1863) noch erfolglos gewesen war, gehörte zu den markanten Figuren der Schweizer Industrie, wobei er sowohl lokal, als Bauvorstand der Gemeinde Riesbach, Quartierentwickler und Förderer von Tram und Bahn (Üetliberg), als auch global präsent war. Als Mitgründer der Alusuisse unterhielt er enge Beziehungen zu den Vertretern des Schweizer und internationalen Finanzkapitals. Sein Sohn Emil Huber-Stockar, anfänglich ebenfalls bei der MFO tätig, leitete ab 1912 die Elektrifizierung der SBB.

Reorganisationsversuche, Akkordkonflikte und Wandel zum Managerunternehmen

Dass der Familienvertreter Dietrich Schindler bis 1935 als «Fabrikherr» alter Schule waltete und, wie Rudolf Jaun an der Tagung ausführte, innovative Neuinvestitionen und Erneuerungen des Produktionsapparates verhinderte, trug dazu bei, dass die MFO bei der Betriebsorganisation modernen Entwicklungen eher hinterherhinkte. Die Auseinandersetzungen um neue Akkordsysteme wiederum, die bei der MFO im Zuge der Reorganisationen ab 1940 einsetzten, waren keine Oerliker Besonderheit, und bereits in den 1930er Jahren hatte es in der Metall-, Maschinen- und Textilindustrie Abwehrstreiks gegeben. Besonderes Aufsehen erregte ein tragischer Vorfall beim Textilmaschinen- und Lastwagenhersteller Saurer in Arbon, wo sich ein junger Arbeiter wegen des verhassten Bedaux-Akkordsystems das Leben nahm. Die intensive Förderung der Betriebsgemeinschaft bei der MFO mittels der Ideologie der «Moralischen Aufrüstung» und gestützt auf das Friedensabkommen von 1937 zwischen dem Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband und dem Arbeitgeberverband der Maschinen- und Metallindustrie muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.

Debakel in den USA

Bei der MFO den Übergang schaffen und Verpasstes nachholen sollte Hans Schindler, der 1935 seinen Vater ablösen musste, und dessen Phase des Wirkens von Weltwirtschaftskrise, Krieg und Hochkonjunktur geprägt war. Er führte unter anderem ein modernes Personalwesen ein und förderte wie erwähnt die Betriebsgemeinschaft. Als Schindler junior die MFO übernahm, verfügte diese mit dem Werk in Ornans (Frankreich), wo seit 1919 Lokomotiven und Transformatoren hergestellt wurden, über eine einzige Produktionsstätte im Ausland. Diese Zurückhaltung war für die Branche nicht untypisch. Auch Georg Fischer, Sulzer und andere gaben wenn möglich der Produktion in der Schweiz den Vorzug und bauten stattdessen auf den ausländischen Märkten Verkaufsorganisationen auf. Fiel der Entscheid zugunsten einer Produktion im Ausland aus, so geschah dies meist wegen der Zollverhältnisse. Oder wegen der Nähe zu den Rohstoffen. So gehörte die Alusuisse, die über enge personelle Beziehungen zur MFO verfügte, zu den früh globalisierten Unternehmen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sie sich zu einem internationalen, vertikal integrierten Konzern mit eigenen Bauxitgruben, Tonerdefabriken, Hütten (Elektrolysen), Kraft- und Verarbeitungswerken.
Dass Hans Schindler nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Werk in den USA (Ta-coma) Schiffbruch erlitt, war alles andere als ein Einzelfall. Die Liste der Schweizer Unternehmen, die in den USA scheiterten, ist lang. Zu ihnen gehört auch die Alusuisse, die in den USA spät, aber umso heftiger investierte. Gründe für das Scheitern gab es verschiedene. Nicht unwesentlich war, dass die geschäftlichen Gepflogenheiten in den USA doch recht andere sind, und dass das Einsetzen von Managern mit Schwei-zer Nationalität schnell Abwehrreflexe auslöste.

Eine einzigartige Quelle

Hans Schindler, der am Ende unfreiwillig aus dem Unternehmen ausschied, war sicher eine spezielle Figur, aber er war kein Aussenseiter. Mit Verwaltungsratsmandaten bei der SKA (CS), der Schweizerischen Rückversicherung (Swiss Re), der Rentenanstalt (Swiss Life) und der NZZ sowie als FDP-Kantonsrat und Präsident des Arbeitgeberverbands der schweizerischen Maschinen- & Metall-Industrie (ASM) war er ein typischer Schweizer Industrieller des 20. Jahrhunderts und Vertreter des Old-Boys-Netzwerks, das die Schweizer Wirtschaft bis zur zweiten Globalisierung beherrschte. Wohl ziemlich einmalig ist hingegen die Quelle, auf die sich Matthias Wiesmann bei seiner Biografie stützen konnte: Dass ein CEO Tagebuch führt, darin auch sein Scheitern und die Zwänge, denen er ausgesetzt ist, reflektiert und die Familie das Tagebuch schliesslich zugänglich macht, ist ein absoluter Glücksfall.

Nachfolgeregelungen sind in der Wirtschaft etwas vom Schwierigsten. Wo noch Fa-milienaktionäre das Sagen haben, trifft dies nicht nur auf KMU, sondern auch auf Grosskonzerne zu. Es ist kein Einzelfall, dass Hans Schindler die Führung der MFO «contre coeur» übernehmen musste. Für einen Eklat anderer Art sorgte sein Onkel Martin Schindler bei der Alusuisse, wo er seit der Gründung 1888 administrativer Direktor und seit 1900 CEO war. Als der Verwaltungsrat, mit einem Verwandten Schindlers an der Spitze, 1920 im Zuge der starken Expansion den Alleinherrscher Schindler durch ein dreiköpfiges Direktorium (mit Schindler) ersetzen wollte, verliess dieser das Unternehmen im Zorn. An Familienzusammenkünften habe man danach wirtschaftliche Themen möglichst gemieden, wurde aus der Familie Huber berichtet.

Fremdarbeiter statt Rationalisierung und Unternehmensfusionen

Nach dem Zweiten Weltkrieg half die bald einsetzende Hochkonjunktur strukturelle Probleme verdecken, die sowohl bei der MFO als auch in der Schweizer Industrie allgemein vorhanden waren. Die Schweiz hatte einen guten Start mit einem, im Unterschied zu den kriegsversehrten Ländern, intakten Produktionsapparat. Diese günstigen Voraussetzungen erlaubten eine massive Expansion der Produktion, die man durch den Import von immer mehr Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeitern bewältigte. Anlass zu weitgehenden Restrukturierungen und zur Entwicklung innovativer Produkte und Verfahren gab diese Entwicklung den Industrieunternehmen nicht. Selbständige Forschungsabteilungen wurden nur zögerlich eingerichtet. Dadurch geriet die Schweiz mit der Zeit gegenüber den jetzt moderner eingerichteten Nachbarstaaten, die ihren Konsumbedarf wieder selber decken konnten, ins Hintertreffen. Wirkliche Rationalisierungen erfolgten oft erst, als nicht mehr beliebig ausländische Arbeitskräfte ins Land geholt werden konnten. Die Probleme der MFO und die anschliessende Restrukturierung hat an der Tagung Peter Ritschard aufgezeigt. Die Branche als Ganzes überholte in den 1950er Jahren beschäftigungsmässig das Baugewerbe und blieb bis in die 1980er Jahre wichtigster Arbeitgeber des 2. Sektors. Auch bei der Ölkrise 1973/74 blieb die fällige Strukturbereinigung weitgehend aus. Die Arbeitslosigkeit wurde durch die Entlassung der Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter exportiert.

Hingegen hatte in den 1960er Jahren eine Konzentrationsbewegung eingesetzt, wobei es ab den späten 1950er Jahren – nicht gerade erstmals, aber zunehmend – auch zu Übernahmen durch ausländische Konzerne kam. Sulzer schluckte die benachbarte Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik SLM in Winterthur (1961), Escher Wyss in Zürich (1966/1969), Bell in Kriens und Burckhardt in Basel (1969) und schliesslich die Maschinenfabrik Rüti (1982), die zu den führenden Webmaschinenproduzenten der Welt gehörte und 1969 von GF übernommen worden war. Schindler kaufte die Wagi Schlieren (1960), BBC die MFO (1967) und Sécheron (1969). Die Übernahme der MFO durch ihre stärkere, besser aufgestellte und internationalere Konkurrentin BBC, die in Oerlikon so schmerzlich empfunden wurde, ist klar im Zuge einer allgemeinen Entwicklung zu sehen, an deren Ende die BBC ihrerseits bei ihrer Fusion mit der schwedischen Asea 1988, zur ABB, von dieser faktisch übernommen wurde. In der Strukturkrise der 1990er Jahre trat bei den Übernahmen an die Stelle des Motivs der Diversifizierung das Schlagwort der Kon-zentration aufs Kerngeschäft. Die Börse mit Investoren, die den Shareholder Value über alles stellten (Ebner, Blocher, von Finck u.a.), wurde zum neuen Treiber, Quersubventionierungen innerhalb der Konzerne waren nun verpönt.

Den Bereinigungen mehr oder weniger zum Opfer fiel auch die alte Schweizer Roll-materialindustrie, zu deren stolzen Teilen einst auch die MFO gehörte. 1981 hatten die Schweizer Waggonbauer die Produktion mit einem Spezialisierungsabkommen unter sich aufgeteilt: BBC (inkl. MFO und Sécheron), SLM, SIG und Schindler (inkl. Wagi Schlieren und Flug- und Fahrzeugwerke Altenrhein FFA) stellten nur noch einzelne Komponenten her. Das Ende kam, als die beteiligten Hersteller ihre Produktion zu verkaufen begannen oder stilllegten. 1997 veräusserte Schindler ihren Rollmaterialbereich an die AdTranz, die zuvor von ABB und Daimler-Benz (später Daim-lerChrysler) gebildet worden war. Ein Jahr später übernahm AdTranz zudem die lukrativen Teile der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) in Winterthur. Das frei gewordene Terrain besetzte die Stadler Rail in Bussnang (TG), die auch davon profitierte, dass sie das komplette Engineering-Team der Alusuisse übernehmen konnte, als deren Käuferin, die kanadische Alcan, am Bereich «Road & Rail» nicht mehr interessiert war. Konkurrenziert wird Stadler heute bei jeder Aus-schreibung vom kanadischen Bombardier-Konzern, der 2000 die AdTranz übernahm und damit Weltmarktleader wurde. Zu Bombardier gehört auch die Rollmaterialfirma Vevey Technologies (früher Ateliers de Constructions Mécaniques de Vevey ACMV).

Was bleibt als (eher unspektakuläres) Fazit: Die MFO war ein typischer, prägender Repräsentant der Schweizer Maschinen- und Metallindustrie, die sich im Laufe der Industrialisierung zur Schweizer Leitindustrie entwickelt und als solche im 20. Jahrhundert die Textilindustrie abgelöst hat. Sie war ein ziemlich normales Unternehmen mit herausragenden Leistungen und starken Positionen auf verschiedenen Märkten, aber auch Fehlern, Schwächen und verpassten Chancen. Typisch für die Branche ist aber nicht nur die MFO, sondern ebenso der Standort Oerlikon mit seiner Monokultur. Eine ähnlich einseitige Wirtschaftsstruktur wiesen auch Winterthur, Schaffhausen, Arbon, Baden und andere Industriezentren auf. Sie bezahlten dies in den 1990er Jahren mit besonders hohen Arbeitsplatzverlusten.