Kilian T. Elsasser
Die Elektrifizierung der Eisenbahnen der Schweiz ist heute eine unumstrittene Erfolgsgeschichte. Die Schweiz und ihre Eisenbahnen hätten aus der „schwarzen“ Kohlenot eine „weisse“ Kohletugend gemacht. Neben der Verwendung von einheimischer Energie, erhöhte der elektrische Betrieb auch die Kapazität und verkleinerte die Betriebskosten massgeblich. Die Art der Elektrifizierung der SBB war vorerst heftig umkämpft. Die Elektroindustrie kämpfte teilweise mit harten Bandagen für Grossaufträge. Nach einigem Zögern trieben die SBB das Projekt mit grosser Geschwindigkeit voran. Erst im Zweiten Weltkrieg verstummte jegliche Kritik. Die Elektrifizierung wurde zum Mythos.
Wegen Absatzschwierigkeiten versuchte die Industrie, die Elektrifizierung der SBB voranzutreiben. Obwohl Emil Huber Jr. noch Maschineningenieur studierte, vermerkte er in Briefen an seinen Vater von einer Studienreise in die USA, dass mit der Elektrizität ein neuer Markt entstehe. Die MFO begann langsam auf elektrotechnische Produkte umzuschwenken. 1902 beteiligte sie sich an der Schweizerischen Studienkommission für elektrischen Bahnbetrieb. Die Initiative der Privatindustrie löste ein Forschungsprojekt mit einem Volumen von 200’000 Franken aus. Dazu kamen beträchtliche Aufwendungen für einen Versuchsbetrieb mit Einphasenwechselstrom der Maschinenfabrik Oerlikon MFO Seebach – Wettingen mit 400’000 Franken und einen Drehstrombetrieb der Brown Boveri & Cie. BBC im Simplontunnel von gegen einer Million Franken.
Die Bedeutung des Engagements lässt sich am Umsatz von 1920 von 75 Mio Franken der BBC erahnen, der grössten Maschinenfabrik der Schweiz. Trotz der erfolgreichen Erprobung der Elektrifizierung, wollten sich die SBB vorerst nicht entscheiden. Für die MFO wurde die finanzielle Lage dramatisch. Direktor Emil Huber-Stockar verliess die Firma. Dies entpuppte sich als Glücksfall. Der von Huber-Stockar verfasste Schlussbericht der Kommission zeigte klar auf, dass ein elektrischer Betrieb der Gotthardlinie mit hochgespanntem Wechselstrom deren Kapazität massgebend vergrössern würde und ein Betrieb rentabel wäre. 1912 wurde Huber-Stockar Leiter der Abteilung für die Einführung der elektrischen Zugförderung der SBB. Bestätigt auch durch den Elektrifizierungsentscheid der BLS 1908 bewilligte der Verwaltungsrat der SBB 1913 40 Millionen Franken für die baulichen Massnahmen der Elektrifizierung der Gotthardlinie. Die Ablösung des Dampfbetriebs war auf 1918 geplant. Denn obwohl die Studienkommission den Einphasenwechselstrom vorgeschlagen hatte, liessen die SBB den Systementscheid offen. Walter Boveri, Mitbegründer der BBC, hatte seinen Einfluss im Verwaltungsrat der SBB geltend gemacht. Walter Boveri versuchte über die Frage, ob die Kraftwerke der SBB durch die Bahn selber betrieben werden sollten, den Gleichstrombetrieb durchzusetzen. Wenn die SBB von den öffentlichen Kraftwerken Drehstrom hätten übernehmen müssen, wären zwei Umformungen nötig gewesen, die den Einphasenwechselstrom unwirtschaftlich gemacht hätten. Walter Boveri kämpfte mit diesem Vorschlag für eine optimale Auslastung der privaten Kraftwerke, aber vor allem gegen seinen Konkurrenten, die MFO, die beim Einphasenwechselstrom führend war.
MFO/SLM Ce 6/6 der BLS von 1910. Erste leistungsstarke Einphasenwechselstrom-Lokomotive der Welt. (Slg. MFO Verkehrshaus)
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 setzten die SBB die Arbeiten aus. Die Einphasenwechselstrom-Fraktion reagierte auf den Vorschlag von Boveri weitere Versuche mit Gleichstrom durchzuführen. Sie organisierte 1915 eine Diskussionsversammlung im Berner Grossratssaal. Sie stellten nun nicht mehr die günstigen Betriebskosten und die Effizienzsteigerung ins Zentrum. Eine elektrifizierte Gotthardlinie wurde zum Pfeiler einer energietechnisch unabhängigen Schweiz emporstilisiert. Zwei Monate später bewilligte der Verwaltungsrat der SBB am 18. Februar 1916 die Elektrifizierung. Walter Boveri gab nicht auf. Am 21. Juli 1916 schrieb er der Generaldirektion, dass die SBB in ihren eigenen Kraftwerke Drehstrom erzeugen sollten. Der Einphasenwechselstrom-Fraktion unterstellte er, dass sie gegen ein einheitliches schweizerisches Stromsystem seien. Emil Huber-Stockar, Oberst der Gotthardbefestigungen, ermahnte die SBB-Generaldirektion: „Nach meiner Ansicht sollte man gegen diesen Angriff kein Pulver verknallen. Diese Herren sollen uns […] vorrechnen, wie viel die Bundesbahnen gewännen, wenn sie diese Kraftwerke für 50-periodigen Drehstrom einrichten würden.“ Die SBB setzten die Arbeiten fort und betrieben die Strecke Erstfeld – Bellinzona seit dem 29. Mai 1921 elektrisch betrieben. Mangelnde und zehnmal höhere Kohlepreise hatte der Schweiz die Nachteile des Dampfbetriebs drastisch aufgezeigt.
Bei den Bestellungen der elektrischen Ausrüstungen bewahrheiteten sich die Befürchtungen von Walter Boveri. Am 26. Mai 1919 schrieb er den SBB, dass die BBC bei den Vergebungen für die Kraftwerkbauten und die Lokomotiven ungebührlich übergangen würden. Die Konfrontation suchend sandte die Badener Firma eine Kopie des Briefs gleichzeitig an den Regierungsrat des Kantons Aargau sowie an die Bundesräte, die dem Post- & Eisenbahn-Departement und dem Volkswirtschaftsdepartement vorstanden. Darin verlangte die BBC, dass die Aufträge im Verhältnis der Beschäftigten der Lieferfirmen vergeben würden, womit sich das Auftragsvolumen der BBC auf Kosten der MFO und der Sécheron, Genf um einen Drittel erhöht hätte. Die Generaldirektion ging inspiriert durch die Vernehmlassung bei Huber-Stockar in ihrem Antwortbrief zum Gegenangriff über. „ … im Warten auf die zwei Probelokomotiven [der BBC] haben wir eine Geduld an den Tag gelegt, die an die Grenze des Möglichen geht.“ Der heftige Briefwechsel endete mit einer Aussprache beim Bundesrat, die an der Vergabepolitik der SBB nichts änderte.
Im harten Konkurrenzkampf profitierte die MFO auch von den Fehlern der BBC. Die Güterzugsprobelokomotive Ce 6/8 I musste wegen Gewichtsüberschreitungen nachträglich mit zwei Laufachsen verlängert werden. Die MFO und die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur SLM handelten rasch und schlugen der SBB eine verbesserte Lokomotive vor, die Ce 6/8 II «Krokodil».Die SBB bestellten bei der MFO noch vor der Auslieferung der Probelokomotive der BBC weitere Lokomotiven. Die Lokomotive eignete sich, mit den sechs Antriebsachsen verteilt auf zwei gelenkig verbundene Rahmen, schwere Güterzüge die kurvenreichen Rampen zum Gotthardtunnel hinaufziehen.
Die BBC lernte rasch. Sie widmete sich intensiv der Entwicklung eines Einzelachsantriebs. Dieser löste den starren, von der Dampflokomotive übernommenen Gruppenantrieb mit Stangen ab. Aufgrund der guten Betriebsresultate bestellten die SBB Lokomotiven der BBC mit Buchli-Antrieb in einer Serie von mehr als 100 Stück und erklärten sie zur Einheitslokomotive. Die SBB verlangten von der BBC aus beschäftigungspolitischen Gründen, dass ein Teil der Lokomotiven von der Sécheron und der MFO in Lizenz gebaut würden. Einen symbolischen Kontrapunkt setzte die MFO 1939 mit dem Bau der Landi-Lok, der stärksten Lok der Welt, die an der „Landi 39“ in Zürich Furore machte. Deren Einzelachsantrieb konnte sich im Gegensatz zum Federantrieb der BBC, der die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, nicht durchsetzen. Mehr und mehr übernahm die BBC die Führung im Elektrolokomotivbau und integrierte in den 1960er Jahren die beiden Konkurrenten MFO und Sécheron in die BBC.
In der Zwischenkriegszeit nutzten die SBB die Gunst der Stunde. Bis 1928 elektrifizierten die SBB 55 % ihres Netzes auf dem 87 % der Bruttotonnenkilometer gefahren wurden. Die SBB erhöhten ihre Kapazität stark, fuhren mit eigener Energie und wurden dem Ruf nach Arbeitsbeschaffungsmassnahmen gerecht. Die Elektroindustrie konnte die Früchte ihrer Vorinvestitionen ernten. In der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre wurde die SBB auch stark kritisiert. Die Erträge waren zurückgegangen. Schuldzinsen belasteten die Rechnung. Die SBB hatten trotz der steigenden Arbeitslosenzahl, die Anzahl ihrer Beschäftigten von 38‘000 Personen (1913) auf 27‘000 Personen (1939) reduziert, weil der elektrische Betrieb weniger Personal benötigt. Die SBB liessen sich nicht beirren. Sie elektrifizierten weitere knapp 500 km. Die Elektrifizierung sollte sich auszahlen. Die Transportbedürfnisse der Achsenmächte und der schweizerischen Kriegswirtschaft konnten im Zweiten Weltkrieg befriedigt werden. Die Elektrifizierung wurde zum Mythos einer unabhängigen Schweiz, die SBB zum verbindenden Element. In der ersten Phase der Elektrifizierung bis 1928 investierten die SBB 675 Millionen Franken. 60 Millionen Franken wurden vom Bund übernommen, der Rest über Kredite finanziert. Die Kosten für die erste Phase entsprachen mehr als dem eineinhalbfachen des Ertrags der SBB von 1928. Verglichen mit dem heutigen Ertrag der SBB entspräche dies 13 Mia Franken. Die Kosten der weiteren Elektrifizierung sind nicht bekannt. Die SBB haben mit der sehr raschen Elektrifizierung die Basis für die Befriedigung der wachsenden Transportbedürfnisse der Nachkriegszeit gelegt.
Investitionen in die Bahn beziehungsweise in eine öffentliche Infrastruktur sind ein finanzielles Engagement in eine Zukunft, die man nicht kennt. Eine Argumentation, die sich nur auf eine kostendeckende Befriedigung von (zukünftigen) Transportbedürfnissen abstützt, ist zum Scheitern verurteilt. Es braucht den Mut neue Technologien zu entwickeln, Fantasie den Ergebnissen einen höheren Nutzen zu geben, Personen, die die Sache hartnäckig verfolgen, Glück die richtigen Vorbereitungen zum richtigen Zeitpunkt getätigt zu haben und einen langen Atem.
Weiterführende Literatur
Kilian T. Elsasser. Heimische „weisse“ statt deutsche „schwarze“, in: Via Storia und
Kilian T. Elsasser(Hg.) Der direkte Weg in den Süden – die Geschichte der Gotthardbahn. Zürich 2007. S. 87-126
Kilian T. Elsasser, Bahnen unter Strom – Die Elektrifizierung der Schweizer Bahnen. Bern 2020.