Die MFO unter der Leitung von Hans Schindler 1935-1957

Matthias Wiesmann

Niemand in der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) habe Geschäftssinn, schrieb Hans Schindler Ende 1956 angesichts weiterer Verlustzahlen in sein Tagebuch. Es gebe Ingenieure, Erfinder, Produktionsleute, Verkäufer, aber keine Geschäftsleute. Fast verzweifelt frage er deshalb seine Geschäftsleitungskollegen: „Wer kann uns das Verdienen beibringen?“

Diesen einmaligen Einblick in die oberste Führungsetage der MFO verdanken wir den Tagebüchern von Hans Schindlern, denen er minutiös jeden Tag seine Gedanken und seine Erlebnisse anvertraut hatte. Die Aufzeichnungen beginnen 1945 anlässlich einer ziemlich abenteuerlichen Mission in China. Schindler wollte als Leiter einer kleinen Wirtschaftsdelegation den Boden für die wirtschaftliche Zusammenarbeit bereiten. Es war eine Reise um die halbe Welt, und China befand sich nach wie vor im Krieg mit Japan. Hans Schindler war da bereits seit 10 Jahren Chef der MFO und eine führende Figur der Schweizer Wirtschaftselite. Aus gutem Haus, promovierter ETH-Absolvent, in diversen Verwaltungsräten engagiert, später Arbeitgeberpräsident der Metall- und Maschinenindustrie, FDP-Politiker im Zürcher Kantonsrat, Offizier, sechsfacher Familienvater mit repräsentativem Wohnsitz.

Mit 39 Jahren wurde er 1935 zum Direktionspräsidenten ernannt, nachdem der Verwaltungsrat seinen greisen und immer unflexibleren Vater Dietrich Schindler-Huber von der Spitze des Unternehmens hatte entfernen müssen Am Schluss hatte der Vater sich gegenüber seinen Kollegen in der Unternehmensführung wie ein Despot aufgeführt, sich nur noch an die Macht geklammert und sämtliche Neuerungen strikte abgelehnt. Sein Motto in den Krisenjahren lautete: sparen, sparen, sparen.

Dietrich Schindler und sein Sohn Hans Schindler 1921

Hans Schindlers Stellung als neuer Chef war aber gar noch nicht richtig definiert, es bestanden keine klaren Entscheidungsstrukturen, nachdem sein Vater quasi als Alleinherrscher gewirkt hatte. Es mussten zuerst eine neue Führungsstruktur und fehlende Managementfunktionen aufgebaut werden, wie etwa für ein Kostenrechnungs- und Budgetierungssystem, Marktforschung oder Personalangelegenheiten. Bei Letzterem kam sein Cousin Rudolf Huber zum Einsatz, der zuvor am MIT in Boston Einblicke in die amerikanische Unternehmenswelt gewonnen hatte. Der wenig selbstbewusste und noch eher unerfahrene Hans Schindler stützte sich dabei auf den langjährigen und sehr gewieften Verkaufsdirektor namens Hirt ab, der zum starken Mann im Unternehmen wurde. Er kannte die MFO in- und auswendig und wusste, wie man Geschäfte macht, allerdings stand er Neuerungen mit zunehmendem Alter immer skeptischer gegenüber, was die Lage zwar stabilisierte, aber den Aufbruch in eine neue Ära erneut verzögerte. Schindler schrieb in seinen Memoiren zu dieser Phase: „Von 1936 bis 1949 liess ich Hirt de facto, allerdings nicht de jure, als spiritus rector walten“.

Zugute kam dem Gespann Schindler/Hirt eine anziehende Kriegs- und Nachkriegskonjunktur und Elektrifizierungsoffensiven im Inland, die manche Mängel noch übertünchten. Zudem war der Ruf der MFO in technischer Hinsicht aufgrund der gloriosen Vergangenheit als Pionierfirma immer noch hervorragend.

Sorge bereite Hans Schindler aber die geringe Ertragskraft der MFO, insbesondere
im Vergleich zum Dauerrivalen BBC. „Ob es darin liegt, dass wir viel zu sehr auf abwegige Spezialitäten eingestellt sind als auf den Absatz vorhandener Produkte?“, fragte sich Hans Schindler. Es kristallisierte sich auf jeden Fall heraus, dass die Fakturensumme pro Beschäftigten bei der BBC viel höher war. Ebenso war die Fertigung bei der Konkurrenz stärker ausgelastet, da sie in der Regel die Werkzeugmaschinen zweischichtig, die MFO nur einschichtig betrieb. Schindler hatte weiter bemerkt, dass die BBC gute Geschäfte mit fertiggestellten Produkten machte, während die MFO gerne an halb fertigen Sachen pröbelte. Man wolle gleichzeitig auf zu vielen Gebieten führend sein.

Mit rund 600 Produkten war die MFO ein Gemischtwarenladen, ohne dass es einen Blockbuster gegeben hätte, der in grossen Stückzahlen bei ausgereifter Fertigung hohe Renditen gebracht hätte. Die Einzelanfertigungen nach Kundenwunsch brachten hohe Kosten mit sich und immer längere Lieferfristen, die häufig nicht einmal eingehalten werden konnten. Immer wieder wurde eine Sortimentsreduktion ins Auge gefasst, aber die Diskussionen endeten meist, so notierte es Schindler, in einem „grössen Geschnörre“. Die radikalen Schritte blieben aus. Auch Innovationen waren kaum noch zu verzeichnen. Einzig mit Gyrofahrzeuge, deren Antrieb mittels Schwungrads statt Batterien funktionierte, erregte man weltweit Aufmerksamkeit, der Markterfolg blieb jedoch aus. Und einmal mehr liefen die Kosten aufgrund von Entwicklungsfehlschlägen und später aufgrund von Defekten, die noch unter Garantie liefen, aus dem Ruder.

Das Unternehmen war auch kaum internationalisiert. Es bestand seit 1919 lediglich ein weiteres Werk in Ornans (Frankreich). Gerade bei Aufträgen der öffentlichen Hand war dies fatal, da die Regierungen gerne die Wertschöpfung im eigenen Land beliessen, sprich: die Anlagen vor Ort produziert werden sollten. In den wichtigsten Absatzgebieten betrieb die MFO immerhin Verkaufsbüros oder kleinere Werkstätten. Zudem gab es zum Beispiel mit Ansaldo in Genua gewisse Vereinbarungen zur Produktion in Lizenz, was aber kaum Gewinne einbrachte.

Schindler versuchte deshalb ab 1950 ziemlich wagemutig, ein Zweigwerk in den USA zu etablieren. Die Tochtergesellschaft Pacific Oerlikon Company in Tacoma, in der Nähe von Seattle, sollte v.a. Hochspannungs- und Mittelspannungsschalter produzieren. Trotz unzähliger Reisen, die im Tagebuch einen grossen Platz einnehmen, scheiterte er auch damit. Einer der Gründe: Er wollte den Amerikanern Technik auf höchstem Niveau mit entsprechendem Verkaufspreis bieten, während in den USA Anlagen gefragt waren, die solide liefen und relativ günstig waren. Und resümiert im Tagebuch: „Tacoma ist gewissermassen ein abgekürztes und extremes Beispiel dafür, wie es der MFO gehen wird, wenn sie weiterhin über ihre Leistungen eingebildet ist und den Markt nicht respektiert.“ Letztlich vernichtete das USA-Abenteuer sehr viel Geld und trug, zusammen mit den Problemen im Stammwerk in Oerlikon, dazu bei, dass die Verluste nur noch mit dem Verkauf von Wertschriften aus dem Finanzvermögen ausgeglichen werden konnten.

Wenig Bewegung gab es auch in einer möglichen Zusammenarbeit mit Escher Wyss. Es war im Prinzip klar, dass die beiden thermischen Abteilungen (Gasturbinen, Dampfturbinen, Turbomaschinen) zusammengelegt werden müssten, um auf dem internationalen Markt zu reüssieren. Doch man konnte sich partout nicht einigen, wie die Verschmelzung organisatorisch aussehen könnte. Weder in Zürich West noch in Zürich Nord wollte man an Einfluss verlieren. Erst 1959 spannte man endlich zusammen. Aber da war es zu spät, um am Markt noch eine wichtige Rolle zu spielen.

Hans Schindler bemühte sich als Unternehmenschef um eine menschliche Unternehmensführung, um sich gegenüber seinem patriarchischen Vater, unter dem er extrem gelitten hatte, abzugrenzen. Dabei fiel er aber immer mehr in die Rolle eines Mediators, der die Konflikte v.a. in der Führungsspitze mit Gesprächen zu lösen versuchte, statt konsequent durchzugreifen, wie er im Tagebuch selbstkritisch anmerkte: „Ich liess die Leute machen, und sie bildeten eine Machtsphäre um sich herum zum Schaden des Ganzen. Die Leute wie Brunner und Puppikofer und Steinmann sind gar nicht reif zur Selbständigkeit und zur freien Zusammenarbeit. Man muss sie führen und zwingen.“

Direktion der MFO 1953 von links nach rechts: Henri Puppikofer, Jörg Steinmann, F.E.Hirt, Rudolf Huber-Rübel, Hans Schindler, Eduard von Goumoens (VR-Präsident), Jakob Brunner

Auch bei anderen harten Entscheiden zögerte er, so dass das Unternehmen immer weiter in die Krise schlitterte, ohne dass er das Steuer herumreissen konnte. Als wohl schlimmstes Handicap erwies sich sein fehlendes Gespür für Menschen. Interessanterweise war es seine Sekretärin, die ihn eine Zeitlang die Augen öffnete dafür, was die Menschen im Betrieb bewegte respektive wie es um ihre Beziehungen untereinander stand.

Ab 1954 versuchte er es mit einer Doppelspitze zusammen mit seinem Cousin Rudolf Huber, einem weiteren Enkel des MFO-Gründers Emil Huber-Werdmüller. Schindler wollte sich v.a. um die Beziehungen der Firma gegen aussen kümmern, während Huber als Chef den Betrieb führen sollte, als „Feldweibel höherer Ordnung“, wie Schindler einmal im Tagebuch schrieb. Doch auch die Co-Geschäftsleitung brachte keine Besserung. Sie waren zu fest auch mit innerfamiliären Befindlichkeiten beschäftigt und scheuten wichtige Diskussionen und Auseinandersetzunge

Die Ehepaare Hans und Ilda Schindler sowie Rudolf und Bausi Huber-Rübel und links Max Huber (VR Präsident) am MFO-Landitag 1939

Ist die operationelle Leitung zu schwach, wäre der Verwaltungsrat gefragt. Doch die starken Kräfte waren Max Huber, der sich als Familienmitglied auf die moderierende Rolle des väterlichen Beraters beschränkte, und Eduard von Goumoens, der durchaus Kritik äusserte, aber bereits relativ alt war und von seiner Residenz in Thun aus wenig Einfluss nehmen konnte und wollte. Dies änderte sich 1954 mit Georg Heberlein, Chef des Wattwiler Textilunternehmens Heberlein als neuer VR-Präsident. Er scheute sich nicht durchzugreifen. Zuerst setzte er mit Franz Luterbacher eine dritte Person in die immer mehr als „Familienrat“ verunglimpfte Geschäftsleitung.

Letztlich zog 1957 der verjüngte Verwaltungsrat, wie schon bei seinem Vater, welch bittere Ironie, die Notbremse und entzog Schindler die operative Führung. Wie es damals üblich war, wurde dieser Bruch übertüncht, um die Krise der Firma gegen aussen nicht sichtbar zu machen und Schindlers Ruf nicht zu schädigen. Er blieb Vizepräsident des Verwaltungsrats und gehörte neu dem permanenten VR-Ausschuss an. Aber viel zu sagen hatte er nicht mehr. Auch sein Amt als Arbeitgeberpräsident der Metall- und Maschinenindustrie behielt er bei. Er war u.a. dafür zuständig, mit den Gewerkschaftsführern die sogenannten Friedensabkommen auszuhandeln bzw. den Vertrag von 1937 alle fünf Jahre zu verlängern. Dank einer grossen persönlichen Verbundenheit mit dem obersten Gewerkschaftsführer und Nationalrat Konrad Ilg und seinen Nachfolgern kam man meist relativ rasch ans Ziel, ohne grössere Verwerfungen. Hier kamen auch die Stärken von Hans Schindler wohl am besten zur Geltung: seine umfassende Sicht auf wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, seine Fähigkeit, auf die Argumente der Gegenseite eingehen und eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen zu können sowie sein Streben nach Ausgleich und Gerechtigkeit.

Die genaue Auseinandersetzung mit den Leitungspersonen, gerade in einem familiengeführten Unternehmen, bringt häufig eine zusätzliche Dimension in die Erforschung einer Firma und ihrer Geschichte. Hier erkennen wir ein gewisses Drama im Menschen Hans Schindler, der für diese Aufgabe nicht der richtige Mann war, aber auch in der familiären Konstellation, welche die Situation nochmals erschwerte. Selbstverständlich darf man die Aussagen einer wichtigen Leitungsperson in seinem Tagebuch nicht überbewerten, aber es sind Aspekte, die in eine Firmengeschichte hineingehören und gewisse Entwicklungen eines Unternehmens erklären können, sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht.

Im Tagebuch von Hans Schindler ist der entscheidende Eintrag zur schleppenden Entwicklung der MFO am 5. Juli 1957 zu finden, als er notierte, an was es ihm laut Berater und langjährigem Weggefährten Arnold Muggli am meisten fehlt: „Unternehmerinstinkt“.


Quellen:

Tagebücher Hans Schindler, 1945-1957 (Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, PA 582)

Schindler, Hans: Überprüfungen. Als Kind und Jugendlicher anfangs des Jahrhunderts im Industriellen-Milieu Zürichs und spätere Erlebnisse, Zürich 1970. (ZB Zürich, FP 31520)

Literatur:

Wiesmann, Matthias: Zauderer mit Charme. Hans Schindler und die Zwänge einer Zürcher Industriellenfamilie, Baden 2020.